Die Natur der Pferde

Die Natur der Pferde

Der wichtigste Faktor im Umgang mit dem Pferd ist das grundlegende Verständnis für seine völlig andere evolutionäre Entwicklung. Das Pferd ist ein Fluchttier. Es ist eine potenzielle Nahrungsquelle für Raubtiere – dazu gehören Katzenarten (wie Pumas, Luchse usw.), Hundearten (Wildhunde, Wölfe usw.) und eben auch der Mensch – also du, ich und jeder andere.

Der Mensch ist ein Raubtier. Wir töten Beutetiere und essen sie: Rinder, Schafe, Hirsche – und ja, auch Pferde. Pferdefleisch ist zwar in den USA „offiziell“ als Nahrungsmittel verboten, wird aber in anderen Ländern wie Frankreich oder Australien nach wie vor gegessen und serviert. Amerikanische Pferde wissen das nur leider nicht. Wenn ein Pferd Angst hat und „schreckhaft“ reagiert, hat es nicht Angst davor, verletzt zu werden – es hat Angst, gefressen zu werden.

Was Überlebensmerkmale von Raubtieren betrifft – etwa Schnelligkeit, scharfe Zähne, Krallen, ausgeprägter Geruchs- und Hörsinn – war der Mensch eigentlich immer ein unterlegenes Raubtier. Er hat sich durchgesetzt, weil er intelligenter war – und die Waffe erfunden hat. Damit konnte er jede Beute jagen, jedes Raubtier töten – auch sich selbst. Pferde wiederum haben überlebt, weil sie schneller waren als ihre Feinde.

Neben ihrer Schnelligkeit verfügen Pferde über außergewöhnlich feine Sinne. Sie hören und riechen potenzielle Gefahren über weite Distanzen. Sie können den Flügelschlag eines Vogels am gegenüberliegenden Ufer eines 100 Meter breiten Flusses sehen. Sie sehen im Stand ohne Kopfdrehung etwa 340 Grad ihres Umfelds. Wenn ein Pferd keinen Ausweg sieht, wird es sich zur Wehr setzen.

Ein Pferd hat den schnellsten Reaktionsmechanismus im gesamten Tierreich – die Zeit zwischen der Entscheidung zum Tritt und dem Moment, in dem der Huf trifft. Wenn ein Pferd beschließt, dich zu treten, und du bist in Reichweite – dann wirst du getroffen. Das ist physikalisch unvermeidbar.

Und dann ist da noch ihr instinktives Geschick, Raubtieren durch blitzschnelle Ausweichbewegungen zu entkommen. Wer schon mal versucht hat, ein Pferd einzufangen, das sich nicht einfangen lassen will, kennt dieses Spiel.

Was wir als übertriebene Angst oder unkontrolliertes Verhalten abtun, ist in Wahrheit ein menschliches Missverständnis der Natur des Pferdes. Pferde sind nicht „schreckhaft“, weil sie dumm sind. Sie wissen, dass sie gefressen werden könnten – und wenn sie sich nicht zu 100 % sicher fühlen, dass keine Gefahr droht, dann ist es ihr genetisch verankerter Überlebensinstinkt, zuerst zu fliehen und erst dann nachzudenken.

Ein Pferd würde lieber einen flatternden Plastikbeutel für einen Puma halten und fliehen – als neugierig stehen zu bleiben und möglicherweise zu sterben.

Wenn wir erkennen, dass unser Pferd nicht „schwierig“ ist, sondern schlichtweg ums Überleben kämpft, bekommen wir die Chance, unser eigenes Verhalten zu verändern. Und damit helfen wir dem Pferd, ein positiveres Bild von uns zu entwickeln – was unsere Beziehung deutlich stärkt.

Wir können die Natur des Pferdes nicht verändern – aber wenn wir verstehen, dass unsere eigene, menschliche Natur oft kontraproduktiv ist, können wir lernen, anders zu reagieren. Wir dürfen als Mensch denken, aber im Verhalten pferdegerecht handeln. Statt das Pferd für seine Angst zu bestrafen – was fast immer zu unangenehmen oder gar gefährlichen Situationen führt – können wir lernen, ihm durch seine Angst hindurchzuhelfen. Mit Wissen, Geduld und neuen Werkzeugen können wir dem Pferd helfen, in unserer Welt Vertrauen und Selbstsicherheit zu entwickeln.

Gut mit Pferden zu sein, erfordert die gleichen Eigenschaften wie gutes Elternsein. So wie wir die Welt mit den Augen eines Kindes sehen müssen, wenn es Angst vor dem dunklen Schlafzimmer hat, so müssen wir auch die Welt mit den Augen des Pferdes betrachten, wenn es Angst vor dem Pferdeanhänger hat.

Ein guter Elternteil – wie auch ein guter Pferdemensch – weiß, dass keine Monster im Kinderzimmer sind. So wie er auch weiß, dass im Anhänger keine Bären lauern. Aber für das Pferd sieht der Anhänger eben aus wie eine metallene Höhle auf Rädern. Statt genervt, ungeduldig oder frustriert zu reagieren – und dem Kind oder Pferd zu zeigen, dass wir ihre Angst „lächerlich“ finden – sollten wir ihre Reaktion ernst nehmen. Denn für sie ist die Gefahr real.

Ein Kind nehmen wir auf den Arm, gehen mit ihm gemeinsam in das dunkle Zimmer, machen das Licht an und bleiben bei ihm, bis es sich sicher fühlt und uns signalisiert: „Jetzt kannst du gehen.“ Genau so sollten wir es mit dem Pferd machen: Nicht in den Hänger zwingen – sondern ihm Zeit geben, ihn zu inspizieren, immer wieder ein- und auszusteigen, bis es sich ganz sicher fühlt, dass der Hänger kein Ort des Schreckens ist.

Ein solcher Umgang löst nicht nur das unmittelbare Problem – es schafft eine Beziehung, in der das Kind (oder das Pferd) uns als Quelle von Sicherheit, Vertrauen, Verständnis und Führung erlebt. Und ist es nicht genau das, was wir uns auch von unseren Pferden wünschen?

Die wichtigsten Bedürfnisse eines Pferdes sind heute die gleichen wie vor Millionen von Jahren: Sicherheit (Überleben), Nahrung (und Wasser), Komfort (emotional wie körperlich) und Führung. Pferde fühlen sich mit einem echten Führer sicher – und folgen gern einem Menschen, der fair ist, vertrauenswürdig und sich Respekt verdient hat.

Die zentralen Bedürfnisse der meisten Menschen in der modernen Welt hingegen sind Anerkennung („Du bist ein toller Reiter, du hast keinen Fehler gemacht“), Status („Du hast die blaue Schleife gewonnen“) und materieller Erfolg („Du bekommst 50.000 Dollar für den ersten Platz“).

Wenn man diese Unterschiede betrachtet – völlig gegensätzliche Bedürfnisse, keine gemeinsame Sprache – dann ist es kein Wunder, dass das größte Problem im Umgang mit Pferden meist nicht körperlicher Natur ist, sondern mit ihrer geistigen und emotionalen Verfassung zu tun hat. Und diese spiegelt sich letztlich im körperlichen Verhalten wider. Ohne eine Sprache, die das Pferd versteht (Englisch gehört nicht dazu), kann man durch Zwang oder Androhung von Schmerz keine echte Partnerschaft erreichen – auch wenn viele es versuchen.

Natural Horsemanship lehrt uns, wie wir unsere Wünsche in einer Sprache ausdrücken, die das Pferd versteht. Es zeigt uns, wie wir zum echten Führer unseres Pferdes werden – durch Liebe, Vertrauen und Respekt. Es lehrt uns, wie wir in jeder Sekunde die Kontrolle über unsere eigenen Gedanken, Emotionen und Bewegungen – ebenso wie die unseres Pferdes – behalten. Erst dann können wir wirklich reiten und führen. Erst dann entsteht Harmonie. Erst dann verbinden sich unsere so unterschiedlichen Naturen zu einer Einheit.

Natural Horsemanship
bedeutet letztlich: die Natur des Pferdes zu kennen – und sie zu achten.

Tim Hayes Natural Horsemanship Trainer Author

Tim Hayes

Tim Hayes ist Experte für Pferdeverhalten und -therapie und hat sich auf Natural Horsemanship spezialisiert. Er bietet verschiedene Seminare (engl. Clinics) an, die auf seinen Büchern „Riding Home-The Power of Horses to Heal“ und „Horses, Humans, and Love“ basieren.

Hayes ist dafür bekannt, außergewöhnliche Beziehungen zwischen Pferden und Menschen zu fördern. Seine Arbeit konzentriert sich auf drei Hauptbereiche: Equine Therapy Clinics, Self-Discovery Clinics und Natural Horsemanship Clinics.

Für detailliertere Informationen können Sie seine Website hier besuchen.

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